Detailed Information
Brief von Max Bruch an Ernst Rudorff Musikwissenschaftliches Institut Köln Max-Bruch-Archiv Signatur: Br. Korr. 154, 201
Functions
Brief von Max Bruch an Ernst Rudorff Musikwissenschaftliches Institut Köln ; Max-Bruch-Archiv
Signatur: Br. Korr. 154, 201
Bruch, Max (1838-1920) [Verfasser], Rudorff, Ernst (1840-1916) [Adressat]
Friedenau, 10.02.1912. - 13 Seiten, Deutsch. - Brief
Inhaltsangabe: Transkription: Friedenau, 10. Feb. 12 M. L. Dank für die Rücksendung der Satyre und für Deine begleitenden Zeilen. Ich möchte nun noch Folgendes sagen: 1) Das ganze Unternehmen ist so schauderhaft, ja so barbarisch, daß man wahrlich sagen kann: „Difficile est satyram non scribere.“ Und deshalb habe ich sie geschrieben. 2) Man kann ja die Sache auch anders behandeln, und einen langen, ernsthaften Aufsatz in der Art der Herren Kunsthistoriker dagegen schreiben. Aber was sagt Goethe zu Eckermann (als er sich einmal über irgendetwas sehr geärgert hatte): --- „doch ich schweige, damit ich nicht selbst unvernünftig werde, indem ich das Unvernünftige bekämpfe.“ Sehr zu beherzigen! 3) Mir schwebten bei dem schnellen Hinwerfen dieser Satyre (die in scherzhafter Form der ganzen Bande und dem ganzen herrschenden System sehr viele [g]erechte und bittere Wahrheiten in’s Gesicht schleudert) die berühmten Briefe der Dunkelmänner („epistolae virorum obsc.“) vor, die unter der genialen Mitwirkung Ulrichs von Huttens im 1. Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts, als Vorboten der Reformation, erschienen, und eine ungeheure Wirkung ausübten. Du kennst sie jedenfalls. Die Verfasser führen ihre Gegner, die „Dunkelmänner“ in Köln, Löwen, Erfurt, Leipzig, u.s.w. immer redend ein; diese theilen sich untereinander ohne Scheu und rückhaltlos ihre innersten Ueberzeugungen und die ärgsten Absurditäten mit – sie exponiren und decouvriren sich selbst so herrlich und so vollkommen, daß hierin die allerschlimmste Satyre und die vollständigste Verurtheilung ihres ganzen Systems liegt. Sie exponiren aber all‘ ihren Unsinn so ensthaft, daß damals Angs viele Mönche und sonstige Pfaffen darauf hereinfielen (wie man heutzutage sagen würde) und glaubten, Einer der Ihrigen sei der Autor! Die Wirkung wird noch dadurch gesteigert, daß das herrliche Küchenlatein der virorum obsc. nachgeahmt wird! – So fuhr führte auch ich in dieser Satyre die Vertreter des barbarischen Unsinns ernsthaft redend und ihre innersten Wünsche u. Gedanken enthüllend, ein; sie sagen durchweeg das directe Gegentheil der Wahrheit! 4) Das Ding ist, wie gesagt, sehr schnell hingeworfen, hier und da müßte noch zugesetzt, an anderen Stellen vielleicht gekürzt, Verschiedenes noch prägnanter gesagt werden. Dein Zusatz: „Enharmonik“ – sehr gut. 5) Weißt Du nicht, daß Herr Schlar Kapellmeister am Wiesbadener Hoftheater, und neben Wüllner, der Hauptplünderer ist? Er hat ja die Armide verschmiert, und nicht weniger als 16 neue Nummern zu Oberon com-po-nirt, d.h. zusammengesetzt. Und um dies zu können, hat er sämmtliche andern Werke Weber’s geplündert (!!!) – Sehr in Gunst bei S. Maj., erhielt noch kürzlich einen Orden. 5) [sic] Zur Verstärkung der Wirkung dieses Angriffs auf das ganze herrschende System müßte man eigentl. auch noch die schöne Verballhornisirung der Zauberflöte durch Herrn von Hülsen heranziehen. Ich war aber nicht da, und bin einstweilen nicht orientirt. Wenn Du Genaueres weißt, so theile es mir doch, bitte, mit – vielleicht mündlich, denn ich komme nun doch sehr bald einmal! Die Hülsen’sche Verballhorn. Müßte von der Commission als „vorbildlich“ hingestellt werden, u.s.w.!!! 6) Derartige „Scherze“ sind für mich, wie Du weißt, nur ein Ventil, durch welches massenhaft angesammelter, entkräftender Aerger über die rasenden Thorheiten unserer Zeit gelegentlich ausströmt. Also ein Act der Selbsthülfe! Und ich schreibe solches Zeug eingentlich nur für ein sehr kleines Publicum - nämlich für Dich und die Deinen! Kein Verleger würde jetzt wagen das Ding zu drucken; ich müßte es auf meine Kosten drucken lassen (natürlich anonym) und es irgend einem Buchhändler zum Vertrieb übergeben. Aber auch dazu wird sich schwerlich Einer bereit finden. Schade! – Gestern Präsidentenwahl im Reichstag. Resultat: I. Präsident ein Ultramontanist; II. Präs. Eom Socialdemokrat (der nur durch die Hülfe der erbärmlichen Waschlapski’s, der Nationalliberalen, zu denen ich früher einmal gehörte, durchkam und endlich II. Vicepräs. Ein Nationalliberaler. Der Socialdemokrat hat 1909 öffentl. Im Reichstag gesagt: „Ich kenne die Geschichte Preußens sehr gut , und weiß daher, daß die herrschende Dynastie sich immer durch Wortbruch ausgezeichnet hat.“ Und diesen Kerl soll nun der Kaiser empfangen! Ich hoffe, er thut es nicht, nein, er kann es nicht, und er darf es nicht! 110 Soc.Dem. im Reichstag, und beinahe 100 Clericaler – Deutschland, wohin bist du gerathen! Bismarck hat sich gerühmt, er habe Deutschl. in den Sattel gesetzt; er selbst aber hat durch das unsinnige, thörichte, absurde allgem. u. unbeschränkte Wahlrecht, das er durchdrückte, dafür gesorgt, daß Deutschland nicht mehr reiten kann. Und dieser Fehler Bismarcks ist so groß und so vernichtend, daß er, in meinen Augen, alle seine sonstigen Verdienste in den Schatten stellt. Denn durch diesen unbegreiflichen Irrthum, diesen gänzlichen Mangel an prophetischer Voraussicht, durch diese gänzlich fehlerhafte Einschätzung der Massen, des Plebs, ist er daran schuld, daß Deutschland zu Grunde geht, und daß wir der Pöbelherrschaft entgegentreiben – gegen die schließlich nur noch Kanonen helfen werden!! - Dein tr. M. Bruch P. S. II. Leonore-Nebensache: ich vernichte diesen „Antrag“ und lasse nur den Vorschlag stehen, die Ouvertüre zu streichen, (den die „Commission“ mit Enthusiasmus annimmt!) M.B. Also nur 5 Pfg nach Lichterfelde? Dann können wir doppelt soviel schreiben! Brillant!Schlar, Joseph (1861-1922) [Erwähnt], Wüllner, Ludwig (1858-1938) [vermutlich] [Erwähnt], Bismarck, Otto von (1815-1898) [Erwähnt]
Bemerkung: Max Bruch
Objekteigenschaften: HandschriftPfad: Max-Bruch-Archiv / Korrespondenz
DE-611-HS-4305615, http://kalliope-verbund.info/DE-611-HS-4305615
Erfassung: 27. November 2025 ; Modifikation: 27. November 2025 ; Synchronisierungsdatum: 2025-11-27T14:29:01+01:00
