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BriefStadtgeschichtliches Museum Leipzig ; Sammlung Autographe Stadtgeschichtliches Museum <Leipzig>

Signatur: A/2014/3157


Tischbein, Sophie (1762-1840) [Verfasser],Wilken, Caroline (1783-1843) [Adressat]

Leipzig, 1813/1813. - 5 Bl., 25,5 x 19,5 cm. - Brief, Handschrift

Inhaltsangabe: Verf. schreibt an ihre Tochter ausführlich über die Tage der Völkerschlacht aus der Perspektive einer Leipziger Einwohnerin und erklärt, dass ihr jeder Augenzeuge berichtete, dass es in der neueren Geschichte kein Beispiel ähnlicher Schlachten gegeben habe und dass noch nie eine so große Anzahl von Kanonen gegeneinander gespielt hätte; Verf. schreibt, dass in den drei Tagen der Schlacht eine halbe Million Menschen gegeneinander in einem Umkreis von wenigen Stunden von der Stadt entfernt miteinander kämpften; Verf. berichtet, dass schon 14 Tage vor der Schlacht nahe bei ihnen über 200.000 Franzosen lagerten, die alles verwüsteten, während die Lebensmittel in der Stadt immer knapper wurden, so dass dieser Zustand nicht mehr lange hätte bleiben können; Verf. schreibt, dass einen schon allein die Ahnung dessen, was noch geschehen müsse, um befreit zu werden, alle Gemüter mit Grausen erfüllte; Verf. berichtet, dass dann am 15. Oktober, einem Freitag, gegen sechs Uhr eine Kanonade zu hören war, und nach einer Zeit der Stille gegen 10 Uhr, als die Verf. schon im Bett lag, eine weitere begann, man danach aber ruhig schlafen konnte; Verf. schildert, dass der Morgen ebenfalls ruhig begann, so dass die Verf. zunächst in aller Behaglichkeit ein Tässchen Caffee genießen konnte; Verf. gesteht, dass sie gerade scherzte, sie wolle sich nun anziehen, um hübsch zu sein, wenn die Stadt genommen würde, als ein fürchterlicher Krach zu hören war, der alle Fenster klirren ließ; Verf. schreibt, dass daraufhin der Donner der Kanonen unaufhörlich zu brüllen begann, man sich aber gegen Mittag schon daran gewöhnt hatte und man gemütlich zu Mittag aß, und zwar dicken Reis mit Rindfleisch (Butter, Milch Eier, Gemüse, davon war keine Rede und von Brot kaum), während es gegen sechs Uhr abends wieder still wurde; Verf. berichtet, dass der Sonntag ruhig verlief, während es am Montag wieder donnerte und erklärt, dass man sich zwar an den Lärm gewöhnt hätte, aber doch deutlich hören konnte, dass dieser immer näher kam, so dass schon das kleine Gewehrfeuer erkennbar war; Verf. schreibt, dass an diesem Montag auch die französische Retirade begann, und zwar vom Peterstor zum Ranstädter Tor hinaus; Verf. schreibt, dass dies ein interessantes Schauspiel war, welches man den ganzen Tag genießen konnte, denn obgleich die Kanonen dabei nicht aufhörten zu toben, wusste man doch, dass die Kugeln noch nicht in die Stadt fliegen würden; Verf. erzählt, dass Carl und Wilhelm den ganzen Tag auf dem Markt standen, um Neuigkeiten einzusammeln, während die Verf. mit Betty das Treiben vom am Fenster beobachtete; Verf. erklärt, dass es am Abend wieder wie gewöhnlich still wurde und noch nichts entschieden war; Verf. schildert, dass die Franzosen, sobald es dunkel war, sich an das Fällen der großen und kleinen Bäume machten, alle Barrieren niederhauten und dann Wachfeuer an Wachfeuer entzündeten; Verf. schreibt, dass, die Retirade bivaquierte, was ein himmlischer Anblick war, da die ganze Nacht so hell erleuchtet war, dass die Verf. in ihrem Bett hätte lesen können; Verf. berichtet, dass man, wenn man zum Fenster hinaussah, die Gesichter der am Feuer liegenden Männer und Marketender-Weiber erkennen konnte; Verf. schreibt, dass am Dienstag, dem 19. Oktober, die Retirade immer lebhafter wurde und sich Reiterei, Fußvolk, Equipage-Wagen, Kanonen, Pulverwagen und Kutschen aller Art derart drängte, dass bald nichts mehr vor noch zurück konnte; Verf. erklärt, dass jeder zuerst das Tor und damit den Weg zurück nach Frankreich erreichen wollte, bevor die Alliierten die Stadt erreichten, um die ganze Geschichte gefangen zu nehmen; Verf. beschreibt, dass der Donner des groben Geschützes immer näher kam und nun auch Kugeln in die Stadt flogen, sie aber immer noch das Fenster nicht schlossen, da die Neugierde stärker war als die Angst; Verf. schreibt, dass es dann aber losging und eine Granate auf dem Markt platzte, während eine andere in ein Haus geflogen und hat einem Kind den Arm abschlug; Verf. erklärt, dass eine weitere Granate in das Lastrobsche [?] Haus flog und nun aller Mut fort war und man an seine Sicherheit denken musste, so dass die Verf. mit Kind und Kegel in die Küche geflohen sei, welche außerhalb der Schusses lag; Verf. schreibt, dass die Gefahr immer größer wurde und so das Manschettenfieber nicht ausblieb; Verf. erklärt, dass sie um zehn Uhr noch einmal hinauf ging an das Fenster, um den Kaiser zu sehen, der mit seiner ganzen Suite vorbeiritt, um ebenfalls das Ranstädter Tor zu erreichen und berichtet, dass er ganz versteinert im Nachdenken über den Wechsel der Dinge wirkte; Verf. erzählt, dass ihr, als sie so dastand, plötzlich eine Kartätsche über den Kopf flog, so dass sie diese pfeiffen hören konnte; Verf. schreibt, dass sie daraufhin schnell wieder in ihre Küche gekrochen sei und erwartete, dass jeden Moment eine Kugel in das Haus fliegen und es anzünden würde; Verf. berichtet, dass dann um halb zwei Carl und Wilhelm, die an der Haustür gestanden hatten, in vollem Jubelgeschrei "Sie sind da" riefen; Verf. erklärt, dass die Stadt mit Sturm genommen worden wurde und man neben dem Donner des groben Geschützes auch das mörderische kleine Gewehrfeuer hören konnte; Verf. erläutert, dass in allen Straßen Gefechte waren und im Brühl 1000 gegen 1000 gestanden und aufeinander geschossen hätten; Verf. schreibt, dass um die ganze Stadt eine Art von Bataille gewesen sei, so auch in allen Gärten, denn da die Brücke am Ranstädte Tor wohl zu früh niedergebrannt wurde, wollten die zurückgebliebenen Franzosen sich durch die Gärten retten und wurden beim Richterschen Garten, gleich an der Mühle, eingeholt; Verf. schreibt, dass dort dann die Toten aufgeschichtet gelegenhaben; Verf. berichtet, dass sie die Gefangennahme der Retirade vor ihrem Fenster aus nicht beobachtet hätten, da viel zu leicht die flinken Kugeln die Fenster hätten erreichen können und sie sich deswegen lieber in der Wasch- und Vorratskammer aufgehalten haben; Verf. schreibt, das um vier Uhr alles still wurde und man nun erst das menschliche Elend in seiner Größe übersehen konnte; Verf. erzählt, dass Carl und Wilhelm gleich in die Stadt und vor die Tore gingen und anschließen berichteten, dass die Straßen und der Markt voller Toter und nach Hilfe schreienden Verwundeten gewesen seien, während ein immerwährendes Einrücken neuer Truppen zu beobachten war; Verf. berichtet, dass sich der Kaiser von Rußland, der König von Preußen, der Kronprinz von Schweden sowie der Kaiser von Österreich auf dem Markt versammelt hätten und erklärt, dass auch sie es gern gesehen hätte, aber als Frauenzimmer nicht ausgehen durfte; Verf. schreibt, dass sie, sobald man vor den Kugeln sicher war, wieder hinauf an ihr Fenster gegangen sei und schreibt, dass man von dort nun beobachten konnte, wie die Wagen abgespannt, umgekehrt, ausgeplündert und auf die Seite gebracht wurden, so schnell, dass man es kaum sehen konnte; Verf. erklärt, dass eine Menge Ochsen und Kühe, welche die Franzosen mitgeführt hatten, ungebunden herumliefen und von dem Pöbel gepfercht und fortgeschleppt wurden; Verf. schreibt, dass alle plünderten, die Sandgassen Race am eifrigsten, während die Kosaken ruhig zusah, wie man ihnen das ihrige nahm, da es doch eigentlich ihre Beute war; Verf. erzählt, dass viele Tiere in das Wasser fielen und ertranken, tote Pferde und tote Menschen vor ihren Augen lagen sowie viele Blessierte, denen man die Kleider ließ, während die Toten bis aufs Hemd ausgezogen wurden und dieses ihnen am nächsten Tag schließlich auch abgenommen wurde; Verf. erzählt, dass im Zwinger dicht unter ihrem Fenster solche Menschen drei Tage lang langen sowie auch Blessierte, deren Gewimmer man die ganze Nacht hindurch hörte und denen man doch nicht helfen konnte; Verf schildert, dass sie am Abend nach Wasser schrieen, so dass Carl um neun Uhr hinunter ging mit Wein und einem großen Topf voller Wasser; Verf. berichtet, dass Carl schließlich die Elenden unter ein sich in der Nähe befindendes Obdach trug, ihnen das Wasser daneben stellte und sie dann ihrem Schicksal überlassen musste; Verf. erklärt, dass es drei Menschen waren, die dann am anderen Abend tot waren; Verf. schreibt, dass so zu Hunderten die Menschen drei Tage lang in den Straßen und vor den Türen gelegen haben; Verf. erklärt, dass bei dieser Menge an Toten und Blessierten ein schnelles Fortschaffen nicht möglich war und dass es drei Tage nach der Schlacht 3000 Verwundete und Kranke gab; Verf. merkt an, dass sie von ihren Kindern immer ausgelacht worden sei, weil sie glaube, dass die Tiere es auf dieser Welt besser als die Menschen hätten und erklärt, dass solange die Welt steht, es gewiss unter dem lieben Vieh kein solches Elend gäbe wie seit einem Jahrhundert unter den Menschen; Verf. schreibt, dass sie die schrecklichen Szenen der Tage vom 19. bis zum 23. Oktober gar nicht gesehen habe, da sie erst am 9. Tag nach der Schlacht zum ersten Mal aus ihrem Haus gegangen sei, erklärt aber, das der Gedanke an das gräßliche Elend, welches ihre Augen seit dem Februar 1813 gesehen hätten, ihre Haut schaudern ließe; Verf. schreibt, dass nun zwar wieder alles in Ordnung sei, die Lust zum Spazierengehen einem aber auf lange Zeit verdorben sei; Verf. schildert, dass sich nun keine Barrieren mehr um die ganze Stadt befänden, die Wege, sowohl die Alleen als auch der schlechteste Fußweg, sowie die Gräben und das Wasser voller Kadaver, sei und man mit jedem Fußtritt alte Lumpen, alte Binden, Scharpie und dergleichen treffen würde; Verf. klagt, wie schwer es doch über sie alle gekommen sei und wie ganz anders es in Leipzig noch vor zehn Jahren war; Verf. vermutet, dass es für sie alle noch lange traurig sein wird, denn die Teuerung nähme sehr zu und niemand wisse, woher im Frühjahr die Lebensmittel herkommen sollen; Verf. erklärt, dass die Viehseuche aufkäme, so dass auch die Versorgung mit Milch, Butter und Rindfleisch in Gefahr sei; Verf. gesteht, dass einem zwar brühsiedend heiß würde beim Nachdenken, ansonsten es einem aber wohler sei als früher und das Herz leichter, da man sich nicht mehr so gedrückt fühle, so dass sie beschlossen habe, die Situation mit Mut und Geduld zu ertragen; Verf. vermutet, dass die Adr. zu hören bekommen habe, dass die Pest ausgebrochen und Leipzig vermauert sei, denn dieses Märchen hätte man in Halle verbreitet, aber so schlimm sei es nicht, indes wäre aber das Nervenfieber ausgebrochen, dem man nicht davonlaufen könne, da es auf dem Land und in der Stadt herrschen würde, so dass es nur helfen würde, auf Gott zu vertrauen; Verf. berichtet, dass in den Lazaretten alle Woche 2000 Menschen, Bürger aus der Stadt und den Vorstädten, sterben würden und teilt mit, dass viele Bekannte gestorben seien; Verf. berichtet, dass Carl wohl bis Weihnachten in Leipzig bleiben wird, da es in Dresden schrecklich aussehen soll und dort die Krankheiten noch ärger wüten würden als in Leipzig und die Menschen dort nichts zum Leben hätten; Verf. erklärt, dass sie ihre Not mit dem Jungen habe, da er den Zug gern mitmachen wolle und sie ihn mit seinen 16 Jahren als zu jung und nicht kräftig genug halten würde, um dem Aufruf zur Landwehr nachzukommen; Verf. schreibt, dass sie noch eine Sache aus den Schreckenstagen zu berichten habe, über einen 23jährigen Hauptmann, nämlich den Sohn ihrer Schwester aus Kassel, der im Sommer kam und und, wohl wiel es sein erster Feldzug war, behauptete, dass es ein großes Zuckeressen wäre, während er sich das schön gewachsene Schnurbärtchen strich und säuberlich jedes Stäubchen von der knappen, schönen Uniform klopfte; Verf. berichtet, dass ihr Neffe immer von "seinen" Leuten sprach, obgleich er noch nicht lange eine eigene Companie hatte und dass er sagte, dass er ohne Orden nicht wiederzukommen gedenke, woraufhin die Verf. geantwortet habe, dass es wichtiger sei, Arm und Bein wieder mitzubringen und ihr ein Orden einerlei sei; Verf. berichtet, dass ihr Neffe voller Lust und Leben frühmorgens in die Stadt ging, um dann zu erfahren, dass vier seiner Leute schon in der Nacht desertiert seien, er dann acht Tage vor der Schlacht wieder durch Leipzig kam, schon verzweifel und schmutzig aussah, während von "seinen" Leuten noch verschiedentliche davongelaufen seien; Verf. erklärt, dass von einem Orden nicht mehr die Rede war, da man nun Pulver gerochen und gesehen habe, das Kugel treffen können; Verf. berichtet, dass sie bis nach dem Tag des Einzuges der Alliierten nichts von ihm gehört habe, dann um 2 Uhr nachmittags von Grebner und Fleischmann, zwei Württemberger Offizieren, welche bei der Verf. wohnten, mitgeteilt bekam, dass draußen ein ausgeplünderter Verwandter sei, der nicht hereinkommen wolle; Verf. schildert, dass sie, als sie nach draußen ging, den Jungen sah, den "stolzen Capitain", an die Tür gelehnt, ohne Schuhe, Strümpfe und Hemd, da ihn die Kosaken ausgeplündert hatten und er in diesem Zustand von Lützen nach Leipzig hatte laufen müssen; Verf. berichtet, dass sie ihn gebadet und in Kleidung von Wilhelm gesteckt hätten und dann Caffee kochten und als dann alle bei einem Tässchen zusammensaßen, doch noch lachen mussten, auch der junge Captain; Verf. gesteht, dass sie wohl an die Orden denken musste, sie aber dann doch nicht erwähnen wollte; Verf. schreibt, dass ihr Neffe dann vor acht Tagen zu seinen Eltern nach Kassel abgereist sei und dass ihr Haus so voll war wie nie, da sie zu den württembergischen Offizieren noch zwei schwedische nebst zwei Bedienten dazu bekam; Verf. erzählt, dass es nichts anderes zu Essen gab außer Erdäpfeln mit Salz oder dickem Reis mit etwas schlechtem Rindfleisch; Verf. erzählt, dass der ältere Prinz von Oldenburg gleich am Tag der Schlacht zu ihnen gekommen sei und drei Tage blieb und alle drei Abende mit ihnen verbracht hätte; Verf. schildert, dass der Prinz gern eine Tasse Tee und ein Butterbrot mit ihnen genossen hätte, sie aber weder Milch noch Butter gehabt hätten; Verf. erklärt, dass es erst am letzten Abend Tee gab, da sie plötzlich Milch hatten, weil sie heimlich die Kuh gemolken hätten, welche ihr Nachbar im Rummel gestohlen und vor den Kosaken im Waschhaus der Verf. versteckt habe; Verf. schreibt, dass der Prinz sich über den Diebstahl divertiert habe und es so bei allem Elend immer noch etwas zu Lachen gegeben habe; Verf. schreibt, dass es damals noch eine gute Zeit war, während jetzt Elend herrsche, eine teure Zeit mit Viehseuche und beinahe auch mit Pest, so dass einem das Lachen vergangen sei; Verf. erklärt, dass die Adr. nun genug zu Lesen habe und das sie sicherlich von den Schreckenstagen nocht gedruckt lesen würde, von dem sie alles nur glauben solle; Verf. schreibt, dass auf dem Kirchhof Dinge vorgefallen seien, wovor die Menschheit schaudern würde und über die sie nicht schreiben könne; Verf. erklärt, dass am 18. Oktober um Leipzig herum abends 14 Dörfer brannten und sie dies von ihrem Boden aus hätte mitansehen können, sie aber dazu keine Lust gehabt habe

https://www.stadtmuseum.leipzig.de/document/objekt/Z0114269 (Digitalisat)

Material: Papier

Pfad: Sammlung Autographe Stadtgeschichtliches Museum <Leipzig>

DE-MUS-853418-Z0114269, http://kalliope-verbund.info/DE-MUS-853418-Z0114269

Erfassung: 15.06.2017 ; Synchronisierungsdatum: 2024-02-09T07:24:22+01:00